"Lesen auf der Pirsch" - Jugendliche lesen heute nicht weniger, aber anders

Dr. Christine Geserick
Geserick Presse

Der Einzug digitaler Medien in den jugendlichen Alltag führt häufig zur Vermutung, dass Jugendliche heute weniger Bücher lesen würden als noch vor ein paar Jahren. Doch Studien widerlegen dies. Was sich jedoch geändert hat, ist die Art des Lesens – bei Jugendlichen genauso wie bei Erwachsenen.

Stabiler Buchkonsum

Die aktuellen Zahlen der deutschen JIM-Studie 2018 (JIM = Jugend, Information, Medien) vom Medienpädagogischen Forschungsverband Südwest MPFS legen nahe, dass Jugendliche ihren Bücherkonsum in den letzten 20 Jahren nicht eingeschränkt haben. Die seit 1998 jährlich durchgeführte repräsentative Umfrage zum Medienkonsum 12- bis 19-Jähriger in Deutschland dokumentiert einen stabilen Anteil der regelmäßigen Leser/innen. Rund 40 % greifen regelmäßig (d. h. „täglich oder mehrmals pro Woche“) zu einem gedruckten Buch. Dabei geht es um das Lesen in der Freizeit; das Lesen von Schulbüchern wurde ausgeklammert (MPFS 2018: 18).

Wie verhält es sich mit den lesenden Jugendlichen in Österreich? Ähnlich angelegt wie die JIM-Studie, aber in einem geografisch kleineren Rahmen, lässt die Education Group seit 2008 alle zwei Jahre Daten zur Mediennutzung von 500 oberösterreichischen Jugendlichen im Alter zwischen elf und 18 Jahren erheben, zuletzt 2017 (Pfarrhofer 2018). Auch diese Studie kommt zu dem Schluss, dass die Buchlektüre nicht an Attraktivität eingebüßt hat. Auf die Frage, wie gerne sie Zeitschriften und Bücher lesen, antworten 57 % der Jugendlichen positiv („sehr gerne“ oder „gerne“), unter den Mädchen sind es sogar 69 %, unter den Buben deutlich weniger, nämlich 43 %. Auch in Österreich sind diese Zahlen über die letzten zehn Jahre recht stabil geblieben.

Mädchen und Frauen lesen mehr

Wie sich oben schon angedeutet hat, gibt es einen anhaltenden Geschlechterunterschied in der jugendlichen Leserschaft: Mädchen lesen mehr. Zurück zur deutschen JIM-Studie: Unter den Mädchen liest 2018 fast jedes zweite (47 %) regelmäßig (d. h. „täglich/mehrmals pro Woche“) Bücher, unter den Buben ist es nur jeder Dritte (34 %). Im Jahr 1998 waren es fast dieselben Zahlen: 47 % der Mädchen und 30 % der Buben. Umgekehrt sind Buben häufiger Nichtleser. Aktuell lesen 20 % der Buben „nie“ Bücher, unter den Mädchen sind es hingegen nur 11 % (MPFS 2018: 19, MPFS 2013: 12; vgl. Abbildung). Dass dieser Effekt nicht alterstypisch ist, sondern Frauen auch als Erwachsene regelmäßiger lesen und mehr Bücher kaufen als Männer, ist bekannt und wird von Markterhebungen immer wieder bestätigt, und zwar kulturunabhängig. In einer groß angelegten GfK-Umfrage aus dem Jahr 2016 in 17 Ländern in Asien, Amerika, Europa und Australien gaben 32 % der Frauen an, „täglich oder fast täglich“ in einem Buch zu lesen, unter den Männern waren es 27 %. In Deutschland war der Unterschied besonders ausgeprägt mit 31 % versus 19 % (GfK 2017: 8, 21). Österreich war in der Stichprobe nicht vertreten.

Abbildung: Jugendliche (12–19 Jahre), die regelmäßig lesen (in %, Deutschland)

Grafik Geserick _lesen

Datenquelle: MPFS, JIM-Studien 1998, 2008, 2018; n = jeweils 1.200 Jugendliche (12–19 Jahre), die „täglich/mehrmals pro Woche“ gedruckte Bücher lesen; eig. Darstellung cg

Leseinteresse durch Vorlesen im Elternhaus

Auch das Bildungsmilieu beeinflusst die Affinität zum Lesen, so die JIM-Studie. Es wird nicht überraschen, dass diejenigen, die ein Gymnasium besuchen eher zu den regelmäßigen Buchleser/innen gehören (49 %) als Haupt- oder Realschüler/innen (29 %). Letztere wiederum sind vergleichsweise häufiger Nichtleser/innen (23 % vs. 12 %) (MPFS 2018: 18). Gerade im Bereich Bildung kommt es aber nicht nur auf den selbst eingeschlagenen Bildungsweg an, sondern bereits das Elternhaus spielt im Sinne der „Vererbung“ eine entscheidende Rolle. So haben die Bildungsvoraussetzungen der Eltern einen großen Einfluss auf die Lesekompetenz und Lesemotivation von Schüler/innen, das zeigt die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) (Hußmann u. a. 2017). Dabei muss die „Vererbung“ elterlicher Bildung nicht nur als starre Konstellation gesehen werden, es gibt durchaus eine aktive Komponente. „Vererbt“ werden kann Lesekompetenz und Spaß am Lesen nämlich durch das elterliche Vorlesen, wie die deutsche Vorlesestudie 2018 zeigt (Stiftung Lesen, Deutsche Bahn Stiftung, Die Zeit). Das Lesenlernen fällt den Kindern umso leichter, je öfter ihnen von ihren Eltern vorgelesen wird. Das zeigt die Kreuzung der Daten zu den Hürden beim Lesenlernen (z. B. „Findest du es eher leicht oder schwer, dir das vorzustellen, was da steht?“) und der elterlichen Vorleseintensität (zwischen „täglich“ und „nie“). Von jenen, denen täglich vorgelesen wird, empfinden nur 26 % der Kinder Hürden beim Lesenlernen, von jenen, denen „nie“ vorgelesen wird, sind es hingegen 73 % (ebd. 2018: 20). Besonders für Buben, die insgesamt häufiger von Problemen beim Lesenlernen berichten als Mädchen, macht das elterliche Vorlesen einen großen Unterschied für den eigenen Leseerfolg, sie profitieren noch mehr als Mädchen (ebd.). Auch ist interessant, dass nicht nur das Lesen selbst leichter gelingt, sondern Schüler/innen mit Vorleseerfahrung lieber zur Schule gehen als andere. Bei aller Bedeutung des elterlichen Vorlesens kann jedoch auch die Schule selbst zum Leseinteresse ihrer Schüler/innen beitragen: Leseecken, Vorlesen durch die Lehrkräfte, Autorenlesungen oder Bücherbasare seien ebenfalls wirksam (ebd.: 29ff.).

Was hat sich geändert?

Zurück zur Ausgangsfrage: Hat sich also in den letzten Jahren trotz der rasant zunehmenden Digitalisierung nichts geändert? Doch, das hat es. In einem jour­nalistischen Beitrag zur „Krise des Lesens“ hat sich Jürgen Kaube (2018) damit auseinandergesetzt, wie sich das Lesen gewandelt hat. Das Ergebnis seiner Recherche: Zwar wird heute nicht weniger gelesen, aber das vermehrte Lesen digitaler Inhalte beeinflusst Lesegewohnheiten und letztlich auch -kompetenzen. Das Vertiefen in eine Story, in ein Buch zum Beispiel, würde dem kurzfristigen Suchen nach Neuigkeiten und Informationen weichen. Im schnellen Wechsel zwischen den verschiedensten Medien findet ein „Power Browsing“ oder „Lesen auf der Pirsch“ statt, wie es die amerikanische Linguistin Naomi S. Baron in ihrem Buch „Words Onscreen“ (2015) nennt. Dazu passt ein Studienergebnis zur Analyse von Recherche­gewohnheiten von Studierenden in den USA: Etwa die Hälfte der von ihnen in Referaten verwendeten Zitate „stammten von der ersten Seite der zitierten Quelle“ (Citation Project, zit. n. Kaube 2018: 17). Man hat gefunden, was man auf der „Pirsch“ gesucht hat und spart sich den Rest der Lektüre.

Nicht geändert hat sich hingegen, dass das Lesen nach wie vor sozial geprägt ist. Man liest vor allem das, was sozial relevant ist, von dem man gehört hat und über das man sprechen kann: im Freundeskreis, im Buchclub oder auf dem Schulhof. So dürfte auch in Zukunft das Lesen kaum an Popularität verlieren.

Literatur

  • Baron, Naomi S. (2015): Words onscreen. The fate of reading in a digital world. Oxford: Oxford University Press.
  • Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) (2017): Frequency of reading books. Global GfK survey. Online verfügbar unter http://insights.gfk.com, zuletzt geprüft am 10.04.2019.
  • Hußmann, Anke; Wendt, Heike u. a. (Hg.) (2017): ILGU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.
  • Kaube, Jürgen (2018): Die Krise des Lesens. In: Frankfurter Allgemeine Woche (42), S. 15–17.
  • MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest) (2018): JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger.
  • MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest) (2013): 15 Jahre JIM-Studie. Jugend, Information, (Multi-)Media. Studienreihe zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. 1998–2013. Stuttgart.
  • Pfarrhofer, David (2017): Medienverhalten der Jugendlichen aus dem Blickwinkel der Jugendlichen. (= Themenblock „Lesen 2017“ der 5. Oö. Jugend-Medien-Studie). Online verfügbar unter https://www.edugroup.at/fileadmin/DAM/Innovation/Forschung/Dateien/05_Lesen_2017.pdf, zuletzt geprüft am 11.04.2019.
  • Stiftung Lesen; Deutsche Bahn Stiftung; Die Zeit (Hg.) (2018): Vorlesestudie 2018. Bedeutung von Vorlesen und Erzählen für das Lesenlernen. Online verfügbar unter https://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=2397, zuletzt geprüft am 11.04.2019.

Autorin

Dr. Christine Geserick ist Soziologin und seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Institut für Familienforschung an der Universität Wien.

Kontakt

E-Mail

Dieser Beitrag ist erschienen in der Zeitschrift "beziehungsweise", Ausgabe Mai 2019 und wird hier mit freundlicher Genehmigung übernommen. 

eingestellt am 10. Mai 2019